Seefahrt

Die nordfriesischen Inseln in oder an der Nordsee waren von jeher optimale Ausgangspunkte für einen Seehandel entlang der Küste, und es hat den Anschein, als ob die heutigen Inselfriesen schon bei ihrer Einwanderung aus den alten friesische Stammgebieten südlich der Weser im 7./8. Jahrhundert seefahrende Bauern und Händler gewesen sind mit einem großen Aktionsradius entlang der Nordseeküste zwischen der Rheinmündung und Skandinavien.
In der Tat dürfte keine Region im nordwestlichen Europa in ihrer jüngeren Geschichte durch die Seefahrt stärker geprägt worden sein als die die nordfriesischen Inseln und Halligen; keine wirtschaftliche Epoche davor oder danach hat das Denken und Handeln ihrer friesischen Bewohner nachhaltiger beeinflusst und kein Zeitalter der Vergangenheit ist dort im kollektiven Gedächtnis der Menschen lebendiger haften geblieben als das der Seefahrt, weshalb die Erinnerung daran für viele der heutigen Insulaner immer noch ein gruppenspezifisches Kriterium ihrer ganz speziellen inselnordfriesischen Identität ist.
Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein fuhr der überwiegenden Teil der männlichen Bevölkerung Föhrs zur See, vorzugsweise im arktischen Walfang oder in der internationalen Handelsschifffahrt. Etwa in dem Föhrer Dorf Oldsum betrug der Prozentsatz der Seefahrer im Jahre 1787 fast 80% aller männlichen Bewohner, der jüngste unter ihnen war gerade einmal 10 Jahre alt, der älteste 68. Noch zwischen 1840-50 ergriffen ca. 70% aller Föhrer Konfirmanden den Beruf des Seemannes. In der Hamburger Walfangflotte zwischen 1761-1821 betrug der Anteil der inselnordfriesischen Kapitäne und Kommandeure 63%, das der Steuerleute 67%, und auch in der niederländischen Walfangflotte ist die Anzahl Föhrer Kommandeure niemals durch die irgendeines anderen Herkunftgebietes außerhalb der Niederlande übertroffen worden: In der höchsten Blütezeit des holländischen Walfanges zwischen 1758-1762 stammten von den 138 ausfahrenden Schiffsführern allein 34 von Föhr, das sind knapp 25%. Noch eindrucksvoller nehmen sich die Zahlen für den Königlichen Grönlandhandel aus, der alljährlich von Kopenhagen aus die Versorgung der dänischen Kolonien auf Grönland und den Handel mit den grönländischen Waren betrieb: Von den 94 nachgewiesenen Schiffsführern zwischen 1775 und 1905 waren 80 auf Föhr beheimatet, immerhin noch 12 auf Sylt und nur 2 auf Amrum. Ohne diese inselnordfriesischen Spezialisten in der arktischen Navigation wäre die Kolonisierung Grönlands durch Dänemark in der vorliegenden Form gar nicht möglich gewesen. Die Geschichte vieler renommierter europäischer Reedereien – insbesondere die hanseatischen – ist bis auf den heutigen Tag eng mit den Namen unzähliger Föhrer Kapitäne verbunden.
Ein ganz entscheidender Eckpfeiler für den Erfolg und den guten Ruf der Föhrer Seeleute in der damaligen internationalen Seefahrt bildeten die Föhrer Seefahrtsschulen, deren mehr als 200-jährige Tradition an der gesamten Nordseeküste ihresgleichen sucht. Ein Charakteristikum dieser privat organisierten Schulen war das Prinzip der Hilfe durch Selbsthilfe. Ihre Lehrer waren häufig alte Fahrensleute, die als erfahrene Praktiker ihren Schülern die Steuermannskunde in einem entsprechend praxisbezogenen Unterricht vermittelten. Ihre Lehrbücher und Lehrmethoden standen weit über die Region hinaus einem hohen Ruf. Insbesondere die nautischen Lehrbücher des von Föhr stammenden Navigationslehrers Hinrich Brarens galten zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit als die modernsten ihrer Art in Mitteleuropa. Da zudem der Unterricht weitgehend kostenfrei war, wurde dadurch auch einkommensschwachen oder gar unbemittelten Föhrer Seeleuten der Besuch der Steuermannsschule ermöglicht als Grundvoraussetzung für den sozialen Aufstieg in den Rang eines Schiffsoffiziers. Ohne diese Schulen wäre es für die kleine insulare Gemeinschaft der Föhringer keineswegs möglich gewesen, auf breiter Basis eine Bildungselite hochqualifizierter Nautiker zu etablieren.
Der Niedergang der Föhrer Navigationsschulen war besiegelt, als Preußen diese privaten Schulen 1870 verbot, womit ein Niedergang der ganz speziellen, jahrhundertealten inselnordfriesischen Seefahrtskultur einherging. Hatten zwischen 1860-1869 noch rund 49% aller männlichen Konfirmanden auf Föhr den Beruf des Seefahrers ergriffen, reduzierte sich dieser Prozentsatz zwischen 1870-76 auf 17% und sollte in den Folgejahrzehnten auf unter 10% fallen. Damit schied ein bedeutender Zweig selbstgeschaffener Kultur aus dem Volksleben der Nordfriesen aus – und zwar für immer.